26 – Elphenbein

Achtung – dieser Fortsetzungsroman ist keine gute-Nacht-Geschichte. Achtung, nur für Erwachsene. Informationen zu „Elphenbein“ unter
www.pies-gestalten.de/ueber-elphenbein/ )

Kapitel 26 – Sechsundzwanzig

„Im Grunde will ich nur eins dazu sagen“, meinte Ellis. „Hätte diese Frau sich ein bisschen eher überlegt, dass sie nichts mehr von mir wissen will, dann hätte ich eventuell schon meine Ausbildung angefangen und müsste mir nicht, wie der letzte Depp, ständig neu überlegen, womit ich denn im nächsten Monat meine Miete bezahle.“
Aber das war noch nicht alles. Anne war auch der Grund gewesen, warum sich Elli nicht schon längst aus Dresden verzogen hatte. Oder, genauer gesagt: Der Grund, warum sie es so lange nicht in Erwägung gezogen hatte.

Anne war vor nicht ganz drei Jahren von ihrem Austauschjahr in Kanada zurück gekommen (für welches sie mit 18 Jahren eigentlich die Altersgrenze überschritten hatte. Nur durch Betteln und unter Zuhilfenahme der Drohung, die Nichte der Schulrektorin nachhaltig zu blamieren, hatte sie sich deren persönliche Abneigung und die für die Zulassung nötige Unterschrift erstritten.

Die Rektorin war eine strenge, aber Gerechtigkeit suchende Frau, und ihre Nichte war ein dreizehnjähriges Mädchen, das wegen einer Abtreibung im Krankenhaus lag.
Als sich Anne trotzig vor ihr aufbaute und mit schmutzigen Details drohte, hatte die Rektorin entschieden, dass der Kleinen auf der Krankenstation alle Chancen erhalten bleiben mussten, und sie unterschrieb den Zettel, den Anne ihr vorgelegt hatte – wissend, dass dies das Ende ihrer ohnehin verpfuschten Schullaufbahn besiegelte.)

Kanada aber lag für Ellis in unerreichbarer Nähe, und sie musste von nun an wieder allein den Unterrichtsalltag bestreiten – und die Nachmittage und Abende, was viel schlimmer war.
Es gab in der elften Klasse plötzlich niemanden mehr, zu dem sie nach der Schule hätte gehen können, wenn sie nicht bis in ihr Heimatkaff fahren und sich zu Tode langweilen wollte.

„Als ich acht Jahre alt war“, unterbrach Helia, „hat meine Mutter einen alten Bauernhof gekauft, und wir sind umgezogen.
Für Sie war es der große Traum, aber ich wusste auf einmal nicht mehr, was ich mit mir anfangen sollte, und das fand Sie verrückt.
Es gab Platz, es gab eine Scheune, überall Abenteuer, aber alles wirkte nur fremd. Ich hatte keine bekannten Kinder mehr, mit denen ich dort hätte spielen können.
Unser eigenes Haus war mir fremd. Ich bin dann meistens mit zu ihnen gegangen, da fiel es mir nicht so auf.
Man kann in so einem kleinen Kaff schon gut groß werden  – nur nich wie ich, wo weggehen, oder neu dazukommen.“

Elli schwieg eine Weile.
„Keine Ahnung, mag sein. Ich war jedenfalls dankbar, als ich Anne kennen gelernt habe, endlich mal bei wem schlafen können, wenn irgendwo in Dresden eine Party war…“

Anne war zur perfekten Zeit aufgetaucht. Anfang der 10. Klasse saß sie auf einmal da, „sitzen geblieben“, auf irgendeiner anderen Schule, schon zum zweiten Mal.
Gleich in dem Moment, als Elli die Tür aufgestoßen hatte
(die erste Stunde war Physik, und man kam traditionell zu spät), war ihr Anne aufgefallen, aber nicht nur ihr. Die vielen gesenkten Köpfe, tiefes Murmeln, unterbrochen vom letzten Nachzüglerquietschen im Stimmbruch und vereinzelte Seitenblicke, verrieten aus allen Lagern unverhohlenes Interesse für die Neue.
Anne selbst sah niemanden an, rutschte an der einzig freien Bank auf ihrem Stuhl herum und ordnete mit zurückhaltender Eleganz ihr weit ins Gesicht fallendes Haarversteck.
Elli hielt inne, lächelte höflich, aber nur kurz. Noch bevor sie weiterging, antwortete die Neue mit einem scheuen Gruß aus schönen Augen. Der Moment war sofort wieder vorbei, und der Unterricht begann.
Niemals hätte sich aus diesem ersten Blick zwischen ihnen erahnen lassen, dass Anne ein Mensch war, der nichts anbrennen lies.

In der dritten großen Pause dann, stand Ellis allein auf dem verlassenen Schulhof. Aus irgend einem Grund schien der Herbst in diesem Jahr besonders früh zu kommen, eine erste Kastanie fiel noch grün von oben auf den Asphalt, es lag etwas merkwürdiges in der Luft, Ellis war nicht hungrig, oder war jedenfalls nicht zum Essen gegangen. Aus der Richtung der Sporthalle kam Anne zu ihr herübergelaufen. Sie machte den Anschein, als suche sie etwas, und Elli wies ihr den Weg zur Kantine. Aber anstatt zu gehen, umrundete die Neue sie nur mit schief gelegtem Kopf.

„Und dann hat sie mich gefragt, bei welchen Friseur ich meine Haare schneiden lasse.“ Elli schüttelte belustigt den Kopf und stellte ihre Bierflasche neben Helias Füßen auf den Boden.
„Ich hatte damals noch einen kinnlangen Bob, und sie hat sich dann tatsächlich den Selben schneiden lassen. Wir müssen ausgesehen haben wie bekloppte Zwillinge, nur halt einmal in groß und brünett und einmal in klein und blond, und so sind wir dann auch auf Partys gegangen.“

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert