Rollenarbeit fürs Wissenschaftstheater

Frühjahr 2020 – Es war die Zeit der Corona-Pandemie. Das Stück war eine Adaption einer lizensierten amerikanischen Produktion mit aggressiver Publikumsanimation und unsere Inszenierung stand vor der Herausforderung, in völlig anderen Rahmenbedingungen gezeigt zu werden, die teilweise mit dem gekauften Material im Widerspruch standen. Inhaltlich, aber vor allem medial.

Das Projekt war zunächst sehr unbeliebt. Die Probensituation inmitten von Krankheit, Abstands- und Personal-trennungsregeln war schwierig und es kam oft zu Blockaden. Während Corona hatte auch jeder noch Private Sorgen zu verarbeiten. Aber es war halt unser Job…

Nur: Wenn man die Spieler bei dieser Einstellung belässt, dass wir den Job machen und fertig, dann kann man keine publikumsreife Show kreieren.

Die Show warf während dem Probenprozess viele individuelle Fragen und Zweifel auf. Oft musste ich solche zunächst aufschreiben und brauchte dann die Zeit bis zur nächsten Probe, um eine gute Antwort für den Spieler zu finden und ihm einen konkreten Weg vorzuschlagen. Es waren viele Übungen nötig.

Natürlich konnte ich bei 7 Solocasts für ein und dieselbe Show so manches mal davon profitieren, diesen oder jenen Prozess bereits mit einem anderen Kollegen durchlaufen zu haben. Jedoch ist jeder Cast anders und braucht im Zweifelsfall auch eigene Übungen und Erklärungen und oft auch einfach: neuen Mut.

So bin ich vorgegangen:
Zunächst gab es eine Konzeptionsprobe, wo Probenplan und Arbeitsweise vorgestellt wurden, und eine „Hausaufgabe“ für jede Kolleg*in, als Vorbereitung zur ersten Probe:

„Suche ein Geräusch aus deiner Kindheit, dass untrennbar zu einer bestimmten Situation gehört, und präsentiere das als Geschichte.“

Soundscapes, so der Name und das Thema der Show, sind auditive Landschaften aus Geräuschen und Klängen. Zudem ist es ein eigener Wissenschaftszweig. Diesen vorzustellen, indem mit dem Publikum Hörübungen angestellt wurden und gemeinsam einige Grafiken ausgewertet wurden, war die Aufgabe der Darsteller.
Ablauf, Text und unterstützende Medien waren bereits festgelegt.

Ich habe einen Spieler als ersten Cast benannt. Mit ihm würde ich die Darstellerrolle entwickeln, um diese dann mit den anderen sechs Spieler*innen zu erarbeiten – mit kleinen Anpassungen entsprechend ihrer individuellen Eigenheiten.

Ich habe Spieler 1 in verrückte kleine Improvisationen mit Sprechübungen zur Kernaussage seiner Rolle(*) geschickt, und nach Haltungen Ausschau gehalten, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte. Das habe ich getan, damit diese neue Rolle wirklich eine schöne neue Herausforderung für ihn werden konnte. Er sollte sie auch deutlich gegen andere Rollen abgrenzen können, die er an einem üblichen Showtag noch übernehmen würde.

Das war wichtig, denn die Show lief Gefahr, überhaupt keine echten Bühnencharaktere hervorzubringen: Wie schon erwähnt war Soundscapes eine lizensierte Produktion und in vielerlei Hinsicht nicht gerade eine verführerische Einladung zur Probenarbeit.

Die Show wurde im Original von Wissenschaftlern in hemdsärmeliger Manier aufgeführt. Es gab zwar einen Text, aber dessen Wortwahl war nicht zugunsten der Gestaltung ausgefallen, sondern es war mehr ein Mitschrieb von einer beliebigen gelungenen Aufführung und im Detail konnten wir anhand der Worte kaum nachvollziehen, was da passierte.

Zunächst galt es also, von den auswendig gelernten Erklärungen ins tatsächliche Spielen zu kommen.

Anders als bei bisherigen Spielorten der Produktion fand unsere Version in einem beeindruckenden Theaterraum mit Kuppelkino statt und auf unserer Bühne würden eben Spieler mit einem Text auftreten, anstatt Wissenschaftlern mit eigenen Forschungshintergrund und massig Hintergrundwissen.

Ich wollte, dass die Spieler zunächst lernten, ein Geräusch als Sensation wahrzunehmen. Mit dem Erarbeiten ihrer individuellen Geräuschgeschichte wollte ich Ihnen einen Zugang geben, das Zuhören als Priorität eins zu verankern. Später in der Show würden Geräusche das Wertvollste sein, was sie dem Publikum mitbrachten. Und natürlich würden immer die gleichen Hörbeispiele vom Band kommen.

Wie sollten sie das Publikum dafür begeistern, intensiv auf ein Meeresrauschen zu hören, wenn sie nicht selbst Feuer und Flamme waren?

Die erste Probe nutzte ich für Dialogübungen mit dem Sidekick der Show, einer zu imaginierenden KI. Sie würde immer wieder vom Spieler aufgerufen werden und wandte sich auch stets vor den Geräuschbeispielen an das Publikum. Sie lobte, verteilte Level-ups und behauptete, eine Art Supercomputer zu sein. Dass diese KI zuhören, oder sehen und hören oder gar den ganzen Raum steuern konnte, das probierten wir aus und beobachteten, wie sich das auf unser Verhalten auswirkte.

In der zweiten Probe durfte ich der Geräuschgeschichte des Spielers zuhören. Wir fixierten den Anlass für sein Geräusch und den groben Text, legten den Auftritt und den Abgang fest, strukturierten den Ablauf und die gestalterischen Mittel der Erzählung und einigten uns auf einen zeitlichen Rahmen.
Ich achtete darauf, dass es in jeder Geschichte einen Moment gab (natürlich der Moment mit dem Geräusch!) wo der jeweilige Spieler ins Präsens wechselte und sich körperlich und sprachlich vollkommen in die Situation begab.

Diese zweite Probe war für jeden Cast der spielerische Einstieg in eine Welt, in der ein einziges Geräusch zum Protagonisten wurde und zumindest unser beider Aufmerksamkeit vollkommen fesselte.

Doch wir mussten heraus finden, welche Charakterzüge eine Spielrolle haben würde, die es fertig brachte, 150 Menschen zum Lauschen, Summen und Analysieren zu bringen.
Ich formulierte als innere Haltung unseres „Lotsen“ die Sätze:

Die Geräusche sind das entscheidende an einem Ort oder in einer Situation. Ich möchte, dass ihr kapiert, dass die Geräusche das entscheidende sind!

Damit schickte ich den Darsteller in Probe 3 auf die Bühne. Wir versuchten es mit der gesamten Phrase und mit Teilstücken, die er wiederholte und wiederholte. Schließlich entdeckten wir 5 emotionale Grundhaltungen, die in diesem Kontext besonders reizvoll waren.

Sie wurden zum Geländer, an denen sich der Lotse durch das Stück hangelte.

Zunächst übertrugen wir die Haltungen in die individuelle Geräuschgeschichte. Wir legten fest, welche Sätze und Bewegungen in welcher Emotion gespielt wurden. Auch die Publikumsanimation bauten wir mit ein.
Nun war die Geräuschgeschichte nichts mehr, was ein Kollege dem anderen vorspielte, sondern wurde zum umfangreichen Werkzeugkoffer für die Rolle des Lotsen.

Weil der Text einer jeden Geräuschgeschichte so überschaubar war, konnten wir sehr genau arbeiten und die Charakterzüge des Lotsen darin fein verankern – viel detailreicher, als wir dies für den gesamten Text der Show vornehmen konnten. All das sollte eine persönliche Rückversicherung für jeden Spieler sein, anhand derer er den Charakter in kurzer Zeit immer wieder finden konnte, indem er die Geschichte spielte.

Weil wir mit einer selbst gewählten Erzählung und den eigenen Worten in Soundscapes starteten, konnten wir viele Antipathien gegenüber dem sperrigen Script überwinden. Der persönliche Zugang machte die Spieler zu Geräusch-Enthusiasten, noch bevor sie mit dem fremden Text übten.

Alle weiteren Casts probten die festgelegten Haltungen, indem sie kurze Sätze aus der Show sprachen. Auch hier transferierten wir den einmal gefundenen Ausdruck in die Geräuschgeschichten.

Den Moment, indem sich ein Spieler ganz in die Situation begab, in der ihm das Geräusch begegnete, weiteten wir auf alle Hörbeispiele in unserer Show aus. Die Aufnahmen stammten aus verschiedenen Teilen der Welt.

Ich habe vor vielen Jahren von der Maskengruppe Familie Flöz eine Übung gelernt, die sie „die sieben Phasen“ nennt. Darin spielt man sich durch 7 verschiedene Phasen von Energiephasen oder Anspannung, begonnen beim Atem als einzige Bewegung bis hin zum Bewusstseinsstillstand als Ergebnis höchstmöglicher Alarmbereitschaft.

Die Phasen 2 bis 4 wollte ich für die Show nutzen und wir übten sie mit den Ursprungsorten unserer Soundscapes:
Auf der Dachterasse spielten wir Urwald und schlugen uns auf der Suche nach Tieren, Blumen oder was immer uns in der Improvisation einfiel durch ein erfundenes Gebüsch, um herauszufinden, wie das unsere Energie und die Bewegungen beeinflusste. Wir sangen auf Hochebenen, versammelten Expeditionsgruppen in märchenhaften Wäldern um uns und stapften durch endlose Dünenlandschaften.

In Heilbronn galt 2020 ab 21:00 Uhr eine Ausgangssperre und Maskenpflicht für die gesamte Innenstadt, wo wir uns befanden. Manchmal waren die Proben zu Soundscapes wie der Urlaub, den niemand machen konnte.

Was wir noch geübt haben?
• Wie man scheinbar unbewusst einen Klappstuhl auf- und zufaltet und dabei Populationsveränderungen erklärt
• Wie man für ein Publikum spielt, dass auf 360° um einen verteilt ist.
• Wie ein starker Körperausdruck dabei hilft, den timecode zu halten und nicht von der nächsten Einspielung überrascht zu werden
• Wie man einen Regenschirm kreativ zum Zeigen und demonstrieren einsetzt
• Wie man ein Publikum fragt, wenn man gar keine Antwort will und wie man es dazu bringt, enthusiastisch hereinzurufen

…und manches mehr. Ich arbeite überwiegend mit physischen Ausdrucksmitteln, die Spieler hatten jedoch auch Proben mit einer Sprachtrainerin.

Die Geräuschgeschichten dienen heute als Überbrückung bei technischen Ausfällen. Aufgrund von Hygienebestimmungen kann die Show noch nicht in unserer ursprünglich für die experimenta inszenierten Version gezeigt werden.

Hier gehts zur Show in der experimenta