2020 endet 20 Uhr

Verdammt. Auch ich habe größeren Einsatz im Sinne der manipulativen sozialen Netzwerke erbracht, weil es so schön bequem und fix verfügbar war.

Manipulativ? Ja, sicher. „Du kannst bei Werbeanzeigen die Zielgruppe genau definieren!“ – also zielgerichtete Werbung: jeder sieht nur, was im eigenen Universum schon vorkommt. Oder „Durch viele Interaktionen kannst du deine Relevanz gezielt steigern, bevor du neuen Inhalt verbreitest!“. Scheinheiliges präventiv-Zumüllen beschreibt es besser.

Ich hatte das gewusst, aber offenbar nur zu Teilen verstanden. Während meine eigene Homepage umständlich zu erreichen ist und jeder Beitrag auch die eigene Scham vor mangelnder Relevanz füttert, sind die Apps immer verfügbar und jeder Content perfekt eingebettet. Es tut nicht weh, sich zu zeigen, weil so viele es tun. Aber… diese Wohlfühlumgebung macht auch Menschen süchtig, nährt grenzwertige Oberflächlichkeit und somit stärkt jeder weitere Beitrag, egal ob gut oder schlecht, das System.

Zugegeben, ich habe es genossen, schnell und mühelos viele neue, interessante Dinge zu finden – die mir in meinem App-feed vorgeschlagen wurden. Es war früher nicht so einfach, Zugang zu passenden neuen Themen zu finden. Ganz ohne interessante, passende Menschen zu kennen. Nicht unpraktisch, besonders in so einer gesellschaftsarmen Zeit wie 2020.

Jedoch hat die Schnelligkeit offenbar ihre Tücken. Ich dachte, wer kürzer sucht und sich schneller informiert, hat anschließend mehr Zeit für vertiefte Beschäftigung. Aber das stimmt nicht.

Am Ende des Jahres gelingt es mir kaum, mich 3 Buchseiten lang zu konzentrieren. Das mag vielfältige Gründe haben, ist jedoch bedenklich genug, dass ich die schnellen Dinge beiseitelege und zusammenhängendes Lesen übe, egal ob trivial.

Ich kappe ein paar Verbindungen.

Und so beginnt der letzte Tag des Jahres.

Der Sonnenaufgang erstreckt sich heute morgen zeitweise über den ganzen Himmel. Und wieder sind mehr Menschen unterwegs, mit Hunden, und zum Fotografieren.
Ich überlege, dass dieses einsame Jahr auch deshalb glücklich war, weil ich mindestens 2/3 aller Sonnenaufgänge und viele Sonnenuntergänge beobachtet habe.

Wenn feiern heißt, zu tun, was man möchte, dann feiere ich, indem es für ein paar Tage keine to Dos mehr gibt, außer ich habe wirklich, wirklich Lust darauf.

Eine lange Schlange vor dem Bäcker lässt mich mir das alte Kaufmannsladen-Prinzip vorstellen. Wird es einmal wieder so sein wie früher, dass jeder Kunde überall persönlich bedient wird? Wird Supermarkt plötzlich zu kompliziert sein, weil die Auflagen für Abstände nicht mehr erfüllbar sind?

Resümieren fühlt sich selten so normal an wie kurz vor Neujahr. Die neuen Menschen. Mehr Inspirationen. Und diese Freiheit, all diese …. gebettet in einen Alltag der persönlichen Antiglobalisierung, der überall Einzug gehalten hat.

Ich habe dieses Jahr vieles getan, was ich wollte, noch mehr liegen gelassen und dazwischen einen mittelgroßen Haufen von angefangenen Themen errichtet, die man ausbauen sollte, könnte, manchmal wöllte, und deren Zeit für die Veröffentlichung vielleicht noch kommt.

(Und muss spontan an Lehrer denken, die im Hinterzimmer Staub von ihren früher einmal  sorgsam erstellten Overhead-Folien pusten, um anschließend ein weiteres Schuljahr in seit-einer-Weile-überholten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterrichten. Vielleicht interessieren mich meine diesjährigen Gedanken auch bald schon nicht mehr. – Oder vermutlich: In 10 Jahren wieder.)

Die Fitnessapp zeigt mir eine Zahl, ich rechne nach und bin irritiert. Ich überlege… nein. – und beschließe, die Sache nicht weiter groß zu verfolgen.

Die Familie ruft an, der Teil, der kein Weihnachten feiert, aber dafür Sylvester, zumindest ein bisschen. Sie machen sich Sorgen und freuen sich zu hören, wie viel in Ordnung und hoffnungsvoll ist. Ich freue mich, dass wir es schaffen, ein ausgewogenes Gespräch aufzubauen. Jeder erzählt.

Für heute habe ich keine Lust mehr, zu kochen.

Es regnet. Die Fußwege sind leerer, die Autofahrer ungeduldiger. Ich sondiere, welche Läden noch geöffnet sind, denn wer weiß das im Moment schon, ohne vorbeizugehen und Aushänge zu lesen? Eigentlich ist das komplett egal. Aber es macht Spaß, umherzustreifen und die Gegend zu erkunden, die in letzter Zeit so oft ihre Gewohnheiten ändert.

Ich beginne, draußen zu beobachten, was andere Menschen heute Abend tun. 3 Berliner reden über ihr Hotel, wie auch immer sie dort untergekommen sind. Für die Veranstaltung am Brandenburger Tor habe er kein Verständnis, sagt einer, der Streaming doof findet. Warum er und die anderen wohl in der Stadt sind?

Es gibt Pizzabrot im überdachten Portal eines geschlossenen Ladens, weil der Heimweg zu lang und das Essen sonst kalt.

Ein älteres Pärchen verlässt das Haus gegenüber, sie tragen eine bunte Laterne in der Hand. Eine süße Idee.

In einem Anflug von wiederkehrender sommerlicher Nostalgie gehe ich zur Tankstelle und bitte um einen großen Kaffee. Die Frau hinter dem Tresen sieht mich an, als möchte sie fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank… (habe ich nicht.)

Der Regen lässt nach. Gegen 20 Uhr ist wirklich niemand mehr unterwegs. Es wummst. Selten, heute. Diese innere Ruhe ist schön.

Seit gestern existiert wieder eine kleine Wahrnehmung für mich selbst, kontextfrei, in meinem Bewusstsein. Ich weiß, dass es wieder einmal andere Leute wahren, die sie mir geschenkt haben. Jeder mit einem kaum wahrnehmbaren Hauch von Nachdruck. Zusammen sind sie ein sanfter Windstrom, der einen Drachen in die Lüfte erhebt, wenn er ihm entgegenrennt.

Danke, Leute. Ich wünsche euch ein glückliches neues Jahr.